Monatsbeiträge
Feb. - März 2022, Christian Märki
Kulmer Pitaval: Missglücktes Manöver im Eis
1. Teil
Mobilität prägt unseren Alltag in hohem Masse. Während sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Menschen zu Fuss, zu Pferd oder mit Fuhrwerken fortbewegten, kamen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Eisenbahn, Fahrrad und dampfgetriebene Vehikel dazu. Mit der Entwicklung und Verbreitung des Automobils veränderte sich die Mobilität tiefgreifend und rasant. Es wurden Regeln nötig, um das Funktionieren des Verkehrs zu gewährleisten.
Nachfolgend soll der Entwicklung der Verkehrsregeln nachgegangen werden. Als Anknüpfungspunkt der Betrachtung soll uns ein Verkehrsunfall In Beinwil am See im Jahre 1937 dienen. Es handelt sich um einen Bagatellunfall, bei dem glücklicherweise niemand verletzt wurde.
Das obergerichtliche Urteil vom 13. Mai 1938 gliedert sich in drei Teile: zuerst wurde der Sachverhalt dargestellt, daraufhin die erstinstanzliche Beurteilung und sodann folgen die Erwägungen des Obergerichts (I. bis III.)
I.
Als der Beklagte Gloor am 17.1.1937, vormittags 9 ½ Uhr mit seinem Wagen auf der Seetalstrasse von Birrwil gegen Beinwil a. See fuhr, erblickte er auf etwa 100 Meter Distanz gegenüber der Liegenschaft Steiner ein Automobil, das im Wenden begriffen, sich mit dem hinteren Teil auf der linken Strassenseite (in der Fahrrichtung des Beklagten gesehen) befand, während die Vorderseite schräg gegen die rechte Strassenhälfte, d.h. gegen die Fahrbahn des Beklagten Richtung Beinwil a. See, gerichtet war. Das Fragliche Auto stand still, weil dessen Lenkerin, die mitbeklagte Frau Hedwig G.-B., es infolge starker Vereisung der Strasse, welche ein "Spulen" der Hinterräder zu Folge hatte, anfänglich nicht wie beabsichtigt, auf die rechte Strassenhälfte, also in die Fahrtrichtung des Beklagten Gloor hinüber zu führen vermochte. Sobald der Beklagte Gloor dieser Situation ansichtig wurde, bremste er seinen Wagen ab und meldete sein Herannahen durch wiederholte, deutliche Signale an. Er hatte die Absicht, auf der ihm gebührenden rechten Strassenhälfte, also rechts am schräg in die Strasse heraustragenden Automobil der Frau G.-B. vorbeizufahren. Wie er sich diesem nun mit seinem Wagen bis auf 8 oder 10 Meter genähert hatte, fuhr es mit einem plötzlichen Ruck vorwärts, unmittelbar in die Fahrbahn des Beklagten Gloor hinein, weil die bisher spulenden Hinterräder inzwischen anscheinend die dünne Eisschicht auf der Strasse zerreibend plötzlich Widerstand gefunden hatten und den Wagen deshalb ruckartig und unvermittelt nach vorne trieben. Der Beklagte Gloor suchte dieser neuen, unerwarteten Situation dadurch Herr zu werden, dass er den vor sein Gefährt verschobenen Wagen der Frau G.-B. nach links zu umfahren suchte, da ein plötzliches, gänzliches Anhalten infolge Vereisung der Strasse schwere Folgen hätte zeitigen müssen. Bei diesem Manöver kam es zwischen den beiden Automobilen zu einer Kollision, die indessen nur einen geringfügigen Schaden zur Folge hatte.
II.
Die Vorinstanz hat, dem Antrag der Staatsanwaltschaft Folge gebend, die mitbeklagte Frau G.-B. wegen Übertretung von Art. 48 Abs. 3 MFV mit einer Geldbusse von Fr. 25.— und den Beklagten Gloor wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1 MFG mit einer Geldbusse von Fr. 15.— belegt. Sie mass dabei das Hauptverschulden der Mitbeklagten G.-B. zu, vertrat indessen die Auffassung, dass der Beklagte Gloor verpflichtet gewesen wäre, seinen Wagen anzuhalten, da er die Absicht der Frau G.-B., auf die rechte Strassenhälfte hinüber zu fahren und damit die Gefahr einer Kollision unbedingt habe erkennen müssen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Gloor eine Beschwerde eingereicht, in der er Freispruch von Schuld und Strafe verlangt.
III.
Es ist in der Beschwerdeinstanz nur noch zu entscheiden, ob auch der Beklagte Gloor sich strafbar gemacht habe, da die mitbeklagte Frau G.-B. das vorinstanzliche Urteil in Rechtskraft hat erwachsen lassen, womit die von ihr begangene Verletzung von Art. 48 Abs. 3 MFV endgültig feststeht.
Das Obergericht gelangt im Gegensatz zur Vorinstanz dazu, die Strafbarkeit des Beklagten Gloor zu verneinen. Es steht fest, dass dieser nicht nur absolut korrekt auf der rechten Strassenhälfte, also der ihm gebührenden Fahrbahn, dahergefahren kam, sondern auch, dass er auf grössere Distanz sein Herannahen durch wiederholte, deutliche Signale kundgegeben hat. Es fragt sich nun, ob er mit diesen Massnahmen alles getan habe, was ihm nach den damaligen Umständen zuzumuten war, insbesondere, ob er nicht verpflichtet gewesen wäre, seinen Wagen anzuhalten, um die Vollendung des Wendemanövers der Frau G.-B. abzuwarten. Dies ist unbedingt zu verneinen. Art. 48 Abs. 3 MFV schreibt vor, dass ein Wagen auf offener Strasse nur dann gewendet werden darf, wenn dies ohne Störung des Verkehrs überhaupt möglich ist. Dies bedeutet nichts anderes, als dass derjenige, der seinen Wagen auf offener Strasse wendet, seine Massnahmen dem Durchgangsverkehr anzupassen hat. Er darf also mit dem Manöver gar nicht anfangen, wenn dadurch der Durchgangsverkehr gestört würde, und er darf mit den einzelnen Etappen des Manövers nur dann fortfahren, wenn er dadurch nicht den Durchgangsverkehr stört. (…) Nachdem er sich korrekt auf der rechten Strassenseite hielt, sein Kommen wiederholt deutlich signalisiert und auch die Geschwindigkeit seines Wagens stark herabgemindert hatte (was sich schon aus der verhältnismässigen Geringfügigkeit des Schadens ergibt), durfte er erwarten, dass auch die mitbeklagte Frau G.-B. ihrerseits alle erforderliche Sorgfaltspflicht werde walten lassen. Dazu gehörte aber (…), dass sie dem Durchgangsverkehr auch während des Manövers ihre volle Aufmerksamkeit schenke und mit der Fortsetzung des halb durchgeführten Wendemanövers solange abwarte, bis Gloor gekreuzt hatte. Dieser konnte und musste nicht voraussehen, dass Frau G.-B. unbekümmert um sein gehörig signalisiertes Herannahen ihr Wendemanöver fortsetze, und dass ihr Wagen, nachdem er bisher an Ort und Stelle verharrt hatte, im letzten Augenblick – als Gloor bereits auf etwa 8 bis 10 Meter herangefahren war - einen ruckartigen Satz nach vorne d. h. gerade vor sein eigenes Gefährt machen werde. Dieses unvernünftige Verhalten der mitbeklagten Frau G.-B., die offenbar ganz in das von ihr beabsichtigte Manöver vertieft war und dabei die Umwelt vollständig vergessen zu haben scheint, und dieses doch gewiss nicht alltägliche, ruckartige Vorwärtsspringen eines Automobils in die Fahrbahn eines bis auf 8 bis 10 Meter herangefahrenen anderen Gefährts liegt derart ausserhalb der täglichen Erfahrung, dass es vom Beklagten Gloor auch bei grösster Aufmerksamkeit unmöglich hat vorausgesehen werden können. Er hatte auch keinen Anlass einem solchen abnormen Geschehen durch Anhalten seines Autos Rechnung zu tragen. Als dann das Unmögliche sich doch ereignete und Frau G.-B. ihm in letzter Sekunde direkt in die Fahrbahn fuhr, da hat der Beklagte Gloor das getan, was jeder erfahrene Automobilist bei vereister Strasse in einer solchen Situation auch getan hätte: er hat anstatt einen auf der vereisten Strasse gefährlichen Stopp zu reissen, versucht, das Fahrzeug der Frau G.-B. nach links zu umfahren, was ihm denn auch beinahe gelungen wäre. Am Verhalten des Beklagten Gloor ist – auch wenn man bei solchen Wendemanövern dem durchfahrenden Verkehr trotz seiner Priorität eine gewisse Sorgfaltspflicht auferlegen will – also nichts auszusetzen. Er hat unter den herrschenden Verumständungen getan, was er konnte. Die Kollision muss einzig auf die mangelnde Aufmerksamkeit der mitbeklagten Frau G.-B., die sich zu sehr nur auf ihr Wendemanöver konzentrierte und den übrigen Strassenverkehr gänzlich aus den Augen verloren zu haben scheint, zurückgeführt werden. Der Beschuldigte Gloor muss daher von Schuld und Strafe freigesprochen werden, wobei die bezirksgerichtlichen Kosten folgerichtig der mitbeklagten Frau G.-B. allein aufzuerlegen, die obergerichtlichen Gerichtskosten aber vom Staate zu übernehmen sind.
Dorfpartie Beinwil am See, ca. 1930
2. Teil
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Personen- und Güterverkehr ausschliesslich über die Wasser- oder menschliche und tierische Muskelkraft abgewickelt. Man nutzte mit Schiffen die Wasserwege; auf den Strassen war man mit Fuhrwerken und Gespannen oder zu Fuss unterwegs. Der Siegeszug der Eisenbahn revolutionierte das Transportwesen; auf der Strasse änderten sich die Verhältnisse jedoch kaum: der Verkehr mit Fussgängern, Gespannen und vereinzelten Fahrradfahrern bewegte sich gemächlich, entsprechend gering war der Bedarf an Verkehrsregeln. Solche fanden sich vereinzelt in Polizeigesetzen.
Mit dem Aufkommen des Automobils als neuem Verkehrsmittel änderte sich dies schlagartig. Das Jahr 1886 gilt mit dem Motordreirad "Benz Patent- Motorwagen Nummer 1" als das "Geburtsjahr" des modernen Automobils mit Verbrennungsmotor. In der Schweiz wurde das Automobil erstmals 1896 an der Landesausstellung in Genf vorgestellt. Fünf Jahre Später gab es in der gesamten Schweiz 370 Personenwagen. Danach entwickelt sich die Automobilzahl rasant:
Anzahl Personenwagen (inkl. Taxis und Kombiwagen, ohne LKW) in der Schweiz
1902 | 370 |
1914 | 5'411 |
1929 | 55'149 |
1945 | 18'279 |
1960 | 509'279 |
1980 | 2'246'752 |
2010 | 4'075'825 |
2020 | 4'658'335 |
Die Folgen der raschen Motorisierung, insbesondere höhere Geschwindigkeiten und höheres Verkehrsaufkommen machten einen rechtlichen Rahmen erforderlich: neben den Regeln des Strassenverkehrs brauchte es Normen über die Fahrzeugzulassung, die Fahrberechtigung, Haftungs- und weitere Fragen. Anfangs galten von Kanton zu Kanton unterschiedliche Verkehrsregeln und Tempolimiten, was selbstredend zu Problemen führte. Bereits 1904 schloss sich die Mehrzahl der Kantone in einem Konkordat zusammen, dem jedoch Graubünden, Thurgau und Uri nicht beitraten. Dem Konkordat von 1914 schlossen sich Graubünden, Ob- und Nidwalden sowie Zug nicht an. Es herrschte weiterhin ein Flickenteppich an Regelungen: so galt in einzelnen Kantonen für den Motorfahrzeugverkehr ein Sonntagsfahrverbot von 13.00 bis 18.30 Uhr, in andern nicht. Dieser Zustand wurde, je länger er dauerte und je stärker die Mobilität zunahm, zunehmend untragbar. Mit Verfassungsrevision von 1921 wurde dem Bund die Kompetenz zur Automobilgesetzgebung zugewiesen (Art. 37bis der damaligen Bundesverfassung). Bis zum Erlass des Bundesgesetzes für den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr von 1933, das für die ganze Schweiz einheitliche Regeln brachte, vergingen dann einige weitere Jahre.
Das Unfallgeschehen vom 17. Januar 1937 ereignete sich unter der Geltung des Motorfahrzeug- und Fahrradgesetzes (MFG) und der dazugehörigen Verordnung (MFV). In den Grundzügen entsprachen die damaligen Regelungen denjenigen des heutigen Strassenverkehrsgesetzes SVG vom 19. Dezember 1958 (SR.741.01). Ausschlaggebend für den Freispruch von Gloor war die Anwendung des sog. Vertrauensgrundsatzes, der besagt, dass jeder Strassenbenützer, der sich selbst korrekt – d. h. verkehrsregelkonform – verhält, mangels konkreter Anzeichen für das Gegenteil darauf vertrauen darf, dass auch die übrigen Verkehrsteilnehmer die Verkehrsregeln einhalten und ihn weder behindern noch gefährden. Vor diesem Hintergrund war das Verhalten der Unfallgegnerin Frau G.-B. unverständlich und derart abwegig, dass Automobilist Gloor mit diesem Verhalten – Durchdrücken des Gaspedals, bis die Räder im Eis greifen und der Wagen vorwärts in die Fahrbahn schiesst – nicht zu rechnen hatte. Glücklicherweise wurde durch das verunglückte Manöver im Eis niemand verletzt, es blieb bei Blechschaden. Nicht zu unterschätzen ist die Busse von Fr. 25.00, welche die Unfallverursacherin zu bezahlen hatte: auf der Basis des Landesindexes der Konsumentenpreise von August 1939 entsprich dieser Betrag heutigen Fr. 190.00. und liegt damit höher als die meisten Ordnungsbussen gemäss aktueller Bussenliste.
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Dokument
- Titel:Kulmer Pitaval: Missglücktes Manöver im Eis
- Autor:Christian Märki
- Veröffentlichung:1. Feb. 2022
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Quellen
- Vierteljahresschrift für Aargauische Rechtsprechung, herausgegeben vom Obergericht des Kantons Aargau, 38. Jahrgang 1938, Nr. 3 / 4, Seite 180 N 61
- Basler Kommentar Strassenverkehrsgesetz, Basel 2014
- Ivan Ottiger, Automobilismus und Rechtsetzung – Über den Einzug des Motorfahrzeuges ins kantonale und eidgenössische Recht zwischen 1900 und 1932, Diss. Zürich 2005, Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte Bd. 55
- Christoph Maria Merki, Vom "Herrenfahrer" zum "Balkanraser: zur Geschichte des Automobilismus in der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 2006 Nr. 1
- Bundesamt für Statistik, Statistisches Jahrbuch und Taschenstatistik der Schweiz 2021
- Bundesamt für Statistik, Landesindex der Konsumentenpreise
- Historisches Lexikon der Schweiz HLS, Internetversion, Stichworte Automobil, Motorisierung