In den Medien
Mi, 22. August 2012, Peter Siegrist
Von der rollenden Hebamme und trinkfesten Jünglingen
Reinach. In der neuen Jahresschrift 2011/2012 ermöglicht die Historische Vereinigung Wynental einen Blick in die Aufzeichnungen und Tagebücher von sechs Personen.
Von Peter Siegrist
In diesen Tagen veröffentlicht die Historische Vereinigung Wynental (HVW) Auszüge aus Tagebüchern und Aufzeichnungen von sechs Personen, die alle im 19. Jahrhundert zwischen 1839 und 1889 geboren wurden. Die Aufzeichnungen des "Geisshof-Tagebuches" reichen sogar ins 18. Jahrhundert zurück. Viele der Texte sind mit Skizzen oder Fotos illustriert. Hier springt dem Leser beim ersten Durchblättern das Bild der Menziker Hebamme Elsje Wirz auf ihrem Roller sofort in die Augen.
Die Geschichten zusammengetragen, redigiert und druckfertig produziert hat der Reinacher Historiker Peter Steiner, Präsident der HVW.
"Zum Teil hatte ich die Originale bei mir", sagt Steiner, "zum Teil stellten mir die Nachfahren dieser Personen Abschriften zur Verfügung." Die Vortragsentwürfe der Hebamme beispielsweise hat deren Enkelin vor sechs Jahren ins Reine geschrieben und so weitergereicht.
"Mit 60 Jahren habe ich einen Roller gekauft. Er ist mein guter Freund", schreibt Hebamme Elsje Wirz 1949.
Einblicke ins einfache Leben
In der Jahresschrift werden Aufzeichnungen von sechs ganz verschiedenen Männern und Frauen publiziert: Ein Kernstück sind dabei die Tagebücher und Briefe des Reinacher Müllers Adolf Fischer (1839-1900). Aus den Aufzeichnungen des jungen Fischer erhält man nebenbei Einblick in Bräuche und Einrichtungen vor 150 Jahren. So ist von Arbeit und Vergnügen die Rede. "Bevorzugte Beschäftigung des jungen Fischer waren die Wirtshausbesuche und eigentlichen Pintenkehren, wo die Männer nebst Geselligkeit sich die Zeit mit Geld-Spielen vertrieben. Bei allem floss der Alkohol mehr als reichlich", kommentiert der Herausgeber und zitiert: "So sollen sie im Hirschen einmal zu sechst 50 Glas Bier verschluckt haben." Die Aufzeichnungen des Müller umspannen sein ganzes Leben: Jugend - Familengründung und reifes Alter.
Der Leser erfährt viel über die sozialen Verhältnisse, weltliches und kirchliches Brauchtum, über Armut und Krankheiten, die das Leben damals geprägt haben.
Der Sprechsaal in der Zeitung
Ratgeber, wie sie heute in Zeitung und Konsumentenzeitschriften verbreitet sind, kannte man bereits Ende 19. Jahrhundert im "Echo vom Homberg", in der Rubrik "Sprechsaal". Lehrer Karl Heinrich Huber (*1855) hat als Korrespondent mitgewirkt und Fragen und Antworten gesammelt. Fragt da eine Leserin: "Trotz wollenen Strümpfen friere ich immer an die Füsse, wer weiss mir zu helfen?" - "Es gibt ein einfaches Mittel gegen das Frieren an die Füsse, indem man um die Füsse Seidenpapier wickelt, was den Zutritt der Kälte verhindert."
Besonders gefallen die lebensnahen Aufzeichnungen der Menziker Hebamme Elsje Wirz (1889-1967). Sie erzählt, wie sie in armen Verhältnissen aufwuchs, sich zur Hebamme ausbildete und in ihrer Wohngemeinde "fast 50 Jahre diente". Sie lässt die Leser mit ihren Schilderungen teilhaben an ihren Freuden, Ängtsten und Nöten unter schwierigen Umsteänden.
Die Herausgeber betonen, dass sie bei der Aufbereitung der Texte die oft mundartlich gefärbte Sprache unverändert liessen, "sie ist lebendiger Ausdruck der Verfasser".
Hebamme Elsje Wirz leitete über 4000 Geburten. / Zu veilen Taufen wurde die Hebamme eingeladen.
Aus alten Tagebüchern. Jahresschrift 2011/2012 der Historischen Vereinigung Wynental. Erhältlich unter: www.hvw.ch oder in der Evangelischen Buchhandlung in Reinach.
-
Dokument
- Titel:Von der rollenden Hebamme und trinkfesten Jünglingen
- Original:Aargauer Zeitung
- Autor:Peter Siegrist, Reinach
- Veröffentlichung:22. Aug. 2012