Monatsbeiträge
März - Juli 2016, Peter Steiner
Teufenthaler in Brasilien
1. Teil
Die Auswanderung nach Brasilien
Im 19. Jahrhundert fuhren bekanntlich Hunderte und Tausende von Schweizern – darunter auch Wynentaler – über den Atlantischen Ozean in die sogennannte Neue Welt. Ziel war meistens Nordamerika, wo vor allem die Vereinigten Staaten Neusiedler anlockten. Es gab aber durchaus auch Schweizer, die in Südamerika eine neue Heimat suchten, allerdings praktisch erst seit der Mitte des Jahrhunderts. Dass der Zug in den Norden Amerikas wesentlich stärker war als in den Süden, leuchtet ein. Eine Niederlassung in den südlichen Staaten war mit klaren Nachteilen verbunden. Die Hinreise war länger und entsprechend wesentlich teurer; man wusste allgemein weniger über die Gegend; das Klima und die politischen Institutionen waren ungewohnter als in den USA: der in den Südstaaten herrschende, wenig duldsame Katholizismus konnte Protestanten abschrecken. Umso interessanter sind die Auswanderungsfälle dorthin.
Am beliebtesten als Einwanderungsland im Süden wurde Argentinien. Zu gewissen Zeiten spielte aber auch Brasilien für die Niederlassung eine Rolle, ja es ging sogar voran. Als einziger südamerikanischer Staat rückte es schon 1819 in den Blickpunkt der Schweiz. Die Bemühungen um ein Kolonisationsprojekt gingen damals vom Kanton Freiburg aus. Die Neusiedlung 130 km nordöstlich von Rio de Janeiro erhielt denn auch den Namen Nova Friburgo. Aus dem Aargau nahmen nur wenig Auswanderer teit, vor allem Heimatlose ohne ein Bürgerrecht, welche keine Gemeinde haben wollte, und das ganze Projekt war nicht sehr erfolgreich.
Viel bedeutsamer wurde Brasilien als Einwanderungsland für Schweizer nach 1850. Deutsche Siedler hatten schon in den vierziger Jahren eine intensivere Kolonisationstätigkeit begonnen. Nur vereinzelt schlossen sich auch Aargauer und andere Schweizer an. Wirklich in Gang kam die Brailien-Auswanderung in unserem Land, als das Handelshaus Vergueiro in der Provinz São Paulo mit einem verlockenden Angebot, dem sogenannten Halbpachtsystem, Siedler zur Gründung von Landwirtschaftskolonien anzuwerben begann. Der Ertrag von angebautem Kaffee sollte zur Hälfte den Kolonisten, zur Hälfte den Koloniebesitzern zufallen.
Ziel der Schweizer Kolonisten war die Provinz São Paulo.
Besonders verlockend am Angebot war, dass die Kolonisten für Hinreise, Niederlassung und Unterhalt in der ersten Zeit überhaupt nichts zu bezahlen hatten. Einen Teil der Reisekosten schossen die Unternehmer vor, den Rest sollten die Heimatgemeinden der Siedler als fünfjähriges Darlehen aufbringen. Als Schuldner galten durchaus die Kolonisten, doch wurde ihnen keine Abzahlungsfrist gesetzt, sie konnten den Schuldbetrag verzinsen. Hingegen sollte ihnen vom zweiten Jahr an ein Viertel der Summe, welche die Heimatgemeinde vorgeschossen hatte, zu deren Gunsten vom Verdienst abgezogen werden. Den Siedlern wurde zusätzlich Pflanzland zum Anbau von Lebensmitteln für den Eigenbedarf versprochen. Nach Abzahlung der Schulden stand es ihnen frei, die Halbpachtkolonie zu verlassen und sich anderswo mit ersparten Mitteln selbständig zu machen.
Das günstig scheinende Angebot verfehlte auch im Aargau seine Wirkung nicht. Etliche Gemeinden fühlten sich veranlasst, arme Bürger zur Auswanderung zu animieren. Die Vorschüsse, die sie zu leisten hatten, waren relativ gering, und die Rückzahlung war ihnen zugesichert. Nicht zuletzt im Wynental packten mehrere Gemeinden die Gelegenheit und brachten 1854 grössere Reisegruppen zusammen. Oberkulm stellte 28 Personen, Teufenthal 26 und Unterkulm 20. Einzig Gebenstorf schickte ein Jahr später mit 32 Reisewilligen ein noch etwas grösseres Kontingent übers Meer.
Im folgenden konzentrieren wir uns auf die Leute aus Teufenthal. Dank Recherchen im Gemeindearchiv und dank dem Kontakt mit einem Nachkommen wissen wir über die Auswanderer aus diesem Dorf genauer Bescheid. Unser Gewährsmann trägt noch immer den alten Teufenthaler Familiennamen. Er heisst Roberto Bruder, ist in Brasilien aufgewachsen und steht in lebhaftem Kontakt mit den dortigen Verwandten, lebt aber seit längerer Zeit in Texas.
2. Teil
Die Teufenthaler Auswanderer
Ein Auswanderer-Verzeichnis des Bezirks Kulm für die Jahre 1854 bis 1857 nennt aus Teufenthal die Familien von Rudolf Bruder, Melchior Fritschi, Hans Rudolf Mauch und Jakob Karrer. Was bewog diese zur Auswanderung? Wie waren ihre Lebensverhältnisse?
Wir beginnen mit Rudolf Bruder. Dieser – mit Geburtsjahr 1807 – stammte aus dem Decker-Zweig seines Geschlechts. In erster Ehe war er mit Anna Maria Erismann aus Muhen verheiratet. Von drei Kindern überlebte einzig die 1837 geborene Tochter Elisabeth das Kinderalter. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1841 fand Rudolf in Verena Schmid eine neue Lebensgefährtin. Sie war die Tochter eines Landsassen, eines Aargauers ohne Ortsbürgerrecht. Von 1844 bis 1848 gebar sie die Kinder Johannes, Verena und Jakob.
Völlig mittellos war Rudolf Bruder nicht. Er besass seit 1843 ein kleines Haus neueren Datums mit Ziegeldach, das auf 800 Fr. geschätzt war. Es war von 5/16 Jucharten (11¼ Aren) Kraut- und Baumgarten im Werte von 450 Fr. umgeben. Dazu hatte er 1846 einen kleiner Acker von 1 Vierling (9 Aren) Umfang «im Linzenthalboden» erwerben können, der 300 Fr. galt. Er bepflanzte ihn zur Hälfte mit Korn, zur Hälfte nutzte er ihn als Wiesland. Die Liegenschaften waren mit keinen Schulden belastet mit Ausnahme eines in Geld umgewandelten Bodenzinsbetrages von jährlich Fr.14.25½. Vorhanden war sicher auch ein bescheidener Hausrat, und von seiner ersten Frau hatte Rudolf ein Geldvermögen von immerhin 2283 Fr. geerbt.
Familie Bruder im Teufenthaler Bürgerregister. Nach der Bleistiftnotiz wäre die Familie 1855 nach Brasilien ausgewandert. In Wirklichkeit war es 1854.
Nicht bekannt ist, ob Rudolf Bruder eine berufliche Tätigkeit ausübte und über ein regelmässiges oder wenigstens gelegentliches Einkommen verfügte. Es dürfte eher nicht der Fall gewesen sein. Aus unbekannten Gründen musste eine Zeitlang (frühe vierziger Jahre) ein Vormund für Rudolf besorgt sein. Die Familie lebte jedenfalls trotz ihren Besitztümern alles andere als im Wohlstand. Rudolf wurde von der Gemeinde wiederholt gebüsst, weil er seine älteste Tochter Elisabeth, dann auch die jüngere Verena, häufig unentschuldigt nicht zur Schule geschickt hatte. Die Busse musste er jeweils nicht bezahlen, sondern er hatte statt dessen «wegen Armuth», wie es audrücklich heisst, 4-10 Stunden in Gefangenschaft abzusitzen. Weshalb hielt er seine Kinder häufig von der Schule fern? Zweifellos, weil er sie lieber zur Arbeit in Haus und Feld anhielt, ja schlimmer, weil er sie sogar betteln liess. Im Dezember 1852 griff der Landjäger Elisabeth Bruder tatsächlich «auf dem Bettel» in Lenzburg auf. Die Gemeinde Taufenthal hatte ihm für seine Bemühungen Fr. 2.14 zu bezahlen. Vater Rudolf wurde vom Gemeinderat vorgeladen und zur Vergütung des Betrages bis Neujahr aufgefordert. Zudem drohte man ihm, wenn er die Tochter «wieder dem Bettel nachschikke», werde sie bei einer fremden Familie verkostgeldet, und man verkaufe zur Deckung der Kosten seinen Acker im Linzental.
Ergänzt werden muss, dass zu allem Elend Rudolfs zweite Frau Verena im Herbst 1850 «ernstlich krank» wurde und sich im damaligen Kantonsspital (nicht Heilanstalt) in Königsfelden auf Kosten der Gemeinde behandeln lassen musste.
Unbefriedigend war die Situation auch bei den andern nachmaligen Auswanderer-Familien. Melchior Fritschi mit den Zunamen Krämerjakobs und Scheuch war 1819 als uneheliches Kind zur Welt gekommen. Seit 1840 war er mit Maria Bodmer von Oberentfelden verheiratet und nahm auch in ihrem Dorf Wohnsitz. Maria gebar in den folgenden Jahren die Kinder Jakob, Gottlieb und Maria Elisabeth. Das Mädchen starb allerdings in jungen Jahren. Um 1850 übersiedelte die Familie zurück an Melchiors Heimatort Teufenthal. Auch in diesem Fall wissen wir nicht, womit der Vater etwas Geld verdiente, und eine Liegenschaft besass er im Unterschied zu Rudolf Bruder nicht. Zumindest zeitweise (1853) wohnte die Familie im Teufenthaler «Spital», also im Armenhaus. Jedenfalls kam sie nicht ohne gelegentliche finanzielle Unterstützung der Gemeinde aus. Gleich nach der Niederlassung in Teufenthal ersuchte Melchior den Gemeinderat, ihm ein Stück Land anzuweisen, «um Erdäpfel pflanzen zu können». Die Gemeinde verfügte über sogenanntes Rütiland (Rodungsland), das sie parzellenweise an besitzlose Familien verpachtete. Melchior erhielt sein Land, doch den Pachtzins vermochte er nicht zu bezahlen; den hatte die Gemeinde selber zu tragen. Genau wie Rudolf Bruder musste Fritschi häufig wegen Schulabsenzen seiner Kinder Gefängnisstrafen auf sich nehmen. Auch seine Kinder verrichteten wohl irgendwelche Arbeiten statt die Schulbank zu drücken.
Hans Rudolf Mauch, Hansis, 1814 geboren, wählte die Unterkulmerin Elisabeth Kämmeter zu seiner Frau. Von 1845 bis 1852 kamen fünf Kinder zur Welt, die Söhne Johannes, Jakob Rudolf, Samuel und Jakob Josua und das Töchterchen Lisette. Der älteste Knabe scheint jedoch nicht lange gelebt zu haben. Mauch besass kein Haus, aber möglicherweise einen kleinen Acker und im Unterschied zu Bruder und Fritschi übte er einen Beruf aus. Er war Posamenter, das heisst Band- und Bortenweber. Auch er hielt seine Kinder gelegentlich vom Schulbesuch ab, doch auf Grund seines beruflichen Einkommens war er in der Lage, die jeweils verhängte Busse zu berappen und so Gefangenschaftsstrafen zu vermeiden. Grosse Sprünge konnte aber auch er nicht machen, im Gegenteil. Im Februar 1854 wurde er wegen einer Schuld von 225 Fr. (alter Währung) betrieben, konnte den Geldstag (Konkurs) aber offenbar mit knapper Not vermeiden.
Spärlich sind die Informationen über den 1819 geborenen Jakob Karrer mit dem Zunamen Hanoggelen. Er entstammte einer kinderreichen Schuhmacherfamilie und übte selber ebenfalls den Schuster-Beruf aus. Er wohnte nicht in Teufenthal, sondern in Niederwil, wie damals das heutige Rothrist hiess. 1850 verheiratete er sich mit Verena Woodtli aus der Nachbargemeinde Oftringen. Viel zu beissen hatte Jakob kaum, auch wenn seine Ehe in der Folge kinderlos blieb. Auf Unterstützung seiner Heimatgemeinde war er aber nicht angewiesen.
Wir werden im folgenden 3. Teil erfahren, dass sich den vier Familien einige weitere Reisewillige anschlossen.
3. Teil
Vor der Reise nach Brasilien
Wir haben die vier künftigen Auswanderer-Familien vorgestellt und folgen nun dem Gang der Ereignisse. Anfangs 1854 sprach sich auch in Teufenthal die Möglichkeit der Ansiedlung in Brasilien herum. Der Gemeinderat erfuhr im Februar von seiner Armenkommission, mehrere Personen möchten in das ferne Land auswandern, wenn die Gemeinde die Transportkosten übernehme und für sie die nötigen Kleider anschaffe. Der Rat informierte die Gemeindeversammlung und liess sich beauftragen, alles genau abzuklären, vor allem die finanzielle Seite, und allenfalls mit Agenten Reiseverträge vorzubesprechen.
Die Teufenthaler Behörde packte die anspruchsvolle Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen an und erarbeitete eine detaillierte Kostenaufstellung. Am 1.März wurde sie der Gemeindeversammlung vorgelegt.
Die Reisekosten betrugen pro Person über acht Altersjahre 334 Fr., für Kinder bis acht Jahre 232 Fr. Der Beitrag der Vergueiro-Gesellschaft daran war bescheiden: 64.20 Fr. im ersten, 45.48 Fr. im zweiten Fall. Der Kanton Aargau beteiligte sich an den Kosten mit je 30 Fr, pro Person, ohne Altersunterschied. Der ganze Rest, also 239.80 Fr., bzw. 156.52 Fr. verblieben der Gemeinde. Diese hatte ein sogenannten Haftgeld von 78, bzw. 48 Fr. gleich bei Vertragsabschluss zu bezahlen, die restlichen Beträge, sobald ihr die Einschiffungszeugnisse der Reisenden zugestellt waren.
Auszug aus der Kostenaufstellung: Die Reisekosten für Personen über acht Jahre betragen 334 Fr., woran die Gemeinde den grössten Teil zu bezahlen hat.
Bei verspäteter Zahlung fallen 5% Zins an.
Der Gemeinderat hatte auch organisatorische Vorbereitungen zu treffen. Er formierte die Auswandernden zu Gruppen unter einem «Reiseleiter», vermutlich nach kantonaler Vorschrift. Den vier Familien, die wir kennen gelernt haben, teilte er teilweise weitere Reisewillige zu. Dabei entstanden folgende vier Gruppen:
1) 6 Personen: Rudolf Bruder mit Frau und 4 Kindern, keine «Zugewandte».
2) 8 Personen: Melchior Fritschi mit Frau und 2 Kindern, dazu vier Knaben, nämlich die Brüder Rudolf und Jakob Hächler, Melischneiders, und die Brüder Jakob und Bernhard Hächler, Moosmelchers. Die ersten beiden, unehelich geboren, waren 15 und 13 Jahre alt, die beiden letzteren, aus einer Ehe mit weiteren Kindern, zählten 17 und 13 Jahre.
3) 7 Personen: Hans Rudolf Mauch mit Frau und 4 Kindern sowie seinem Bruder Jakob Mauch, Schuster.
4) 5 Personen: Jakob Karrer, ohne seine Frau, aber mit Witwe Marianna Mauch-Weber, Johannesen, und deren 3 Kindern. Der ebenfalls angemeldete Knecht Rudolf Mauch, Krönis, machte sich dann am Tag der Abreise aus dem Staub.
Genaue Rechenschaft gab sich der Teufenthaler Gemeinderat über die Finanzierung der Auswanderung. Er plante, eine grössere Geldsumme aufzunehmen und bis zur völligen Abzahlung einige Jahre zu verzinsen. Allerdings durfte er mit einer raschen Begleichung der Schulden rechnen. Ein grosser Teil der Auslagen liess sich durch den Verkauf der Liegenschaften von Rudolf Bruder und durch «Kassierung» der beträchtlichen Geldmittel der Witwe Mauch-Weber decken. Für die Reisegruppen Bruder und Karrer fielen daher im Grunde gar keine Kosten an. Für die Gruppe Mauch errechnete man Kosten von Fr.1638.76 und für Melchior Fritschi mit den Hächler-Knaben Fr.2158.40, zusammen also Fr.3797.16, wovon aber der Staatsbeitrag von total 780 Fr. in Abrechnung kam. Die mutmasslichen Einnahmen bezifferte man auf etwa 2500 Fr., so dass eine Restsumme von lediglich etwas mehr als 500 Fr. blieb. Allerdings waren die Kosten für die anzuschaffenden Kleider nicht berücksichtigt. Der Gemeinderat rechnete sich ferner aus, dass auch die Verzinsung des Darlehens nicht allzu belastend sein würde. Denn künftig fiel das Kostgeld weg, das man für die Hächler-Knaben hatte bezahlen müssen, ebenso die Bürgergabe (Holz) für die wegziehenden Familien.
Am 1.März 1854 wurde die Teufenthaler Gemeindeversammlung über alles informiert. Sie stimmte dem Vorhaben mehrheitlich zu, so dass die Sache ihren Lauf nehmen konnte. Schon sechs Tage später konnte der Gemeinderat der Versammlung mitteilen, die Reiseverträge seien abgeschlossen, und der Verwalter des Bürgergutes wurde ermächtigt, die erforderliche Darlehen «aufzubrechen» (aufzunehmen).
Rudolf Bruder beeilte sich, seine Liegenschaften vor der Abreise zu verkaufen. Schon zwei Wochen nach dem Gemeindebeschluss gingen sie an neue Besitzer. Für das Haus mit Umschwung löste Rudolf Fr.1285.71 (neuer Währung), für den Acker Fr.491.78. Er bevollmächtigte einen Mitbürger zum ratenweisen Bezug des Geldes in den kommenden sechs Jahren. Von einem Verkauf durch Hans Rudolf Mauch, der auch eine Liegenschaft besessen haben soll, war jedoch nicht die Rede.
4. Teil
Auf den Vergueiro-Kolonien
Am 14. April 1854 verabschiedeten sich die künftigen Kolonisten von ihren Freunden und Bekannten in Teufenthal. Für Reisen nach Nordamerika war der übliche Abfahrtshafen Le Havre in der Normandie. Die Brasilien-Auswanderer aus Teufenthal hatten sich jedoch in Hamburg einzufinden. Von Familie Bruder wissen wir, dass sie am 9. Mai den dortigen Hafen auf einem Schiff, das ebenfalls Hamburg hiess, mit Ziel Santos in Brasilien verliess. Die drei übrigen Reisegruppen dürften den Ozean auf demselben Schiff überquert haben. Einzelheiten der Reise sind nicht überliefert. Die Auswanderer begegnen uns in den Quellen erst wieder an ihren Zielorten. Die Gruppen Bruder, Fritschi und Mauch kamen auf der Kolonie São Lourenço in der Provinz São Paulo unter, zusammen mit einem grossen Teil der Auswanderer aus Unterkulm und Oberkulm, die wohl mit ihnen gereist waren. Wo genau sich die Kolonie befand, ist nicht genügend geklärt. Man vermutet sie in der Nähe der heutigen Stadt São Carlos, 230 km nordwestlich der Stadt São Paulo. Jakob Karrer hingegen wurde aus unbekanntem Grund fast als einziger Wynentaler einer andern Kolonie zugeteilt, Ibicaba, nördlich von São Paulo gelegen.
Ergänzt werden muss hier, dass 1855 ein weiterer Teufenthaler nach Brasilien auswanderte, Heinrich Bruder. Dieser war 1812 in einer kinderreichen Familie zur Welt gekommen. Seine Eltern hiessen Hans Heinrich Bruder und Elisabeth Müller. Seine Auswanderungr hat in den Quellen merkwürdigerweise einen sehr geringen Niederschlag gefunden. Sie wird weder in den Teufenthaler Protokollen noch in den kantonalen Dokumenten erwähnt. Einzig im Teufenthaler Bürgerregister findet sich die Notiz, Heinrich sei am 4. Juli 1855 nach Brasilien ausgewandert. Er muss das ohne jegliche Unterstützung von Gemeinde und Kanton auf eigene Kosten getan haben. Bruder erscheint tatsächlich auf einer Hamburger Schiffahrtsliste. Danach verliess er Hamburg bereits am 10. Juli auf dem Schiff North Sea. Mit ihm reisten zahlreiche weitere Aargauer, unter anderen ein Jakob Erismann aus Reinach. Wo sich Heinrich in Brasilien niederliess, ist unbekannt. Im Juli 1944 wurde er durch das Bezirksgericht Kulm verschollen erklärt.
Die Erwartungen der Schweizer Kolonisten, gestützt auf die Versprechungen, der Firma Vergueiro, waren gross. Noch im August 1855 meldete der schweizerische Generalkonsul in Brasilien, Paravicini, das Kolonisationssystem der Gesellschaft Vergueiro sei besonders günstig und besonders für unbemittelte Leute geeignet. Die Wirklichkeit erwies sich bald als völlig anders. Einerseits war es für die Zuwanderer schwierig, im ungewohnten Klima und unter ganz andern Lebensbedingungen in absehbarer Zeit genügende Überschüsse zu erwirtschaften, um die Schulden abzuzahlen. Anderseits nutzte die Gesellschaft die Siedler aus und war lediglich auf den eigenen Profit bedacht. Sie legte die Verträge einseitig zu Ungunsten der Pflanzer aus oder hielt sich teils gar nicht daran. Folge war, dass die Schulden der Kolonisten mit den Jahren häuftg nicht geringer, sondern grösser wurden. Bereits Ende 1856 reiste im Auftrag von sechs Kantonen, darunter derm Aargau, der Zürcher Dr. Jakob Christian Heusser – der Bruder von Johanna Spyri – nach Brasilien. Er hatte die finanzielle Lage der Siedler, Familie um Familie, genau zu übeprüfen und die Ergebnisse der Zürcher Regierung zu melden. Er stellte beispielsweise fest, dass Rudolf Bruders Frau, inzwischen Witwe, nicht nur für die Schulden der eigenen Familie aufzukommen hatte, sondern auch für die eines ihr zugeteilten Jakob Erismann, dessen genaue Herkunft wir nicht kennen. Frau Bruders Vermögen hatte sich seit der Ankunft immerhin von 1080 leicht auf 1300 erhöht (vermutlich Milreis, die damals auch in Brasilien geltende Währung Portugals). Ihre Schulden aber betrugen noch 1203, hätten also praktisch ihr ganzes Hab und Gut aufgefressen.
Spätestens 1857 merkte man auch in Teufenthal, dass etwas faul war. Die Gemeinde hatte ja beträchtliche Vorschüsse an die Reisekosten geleistet, und bereits wäre die zweite versprochene Rückzahlungsrate fällig gewesen. Doch kein Rappen traf ein. Der Gemeinderat erkundigte sich beim aargauischen Innendirektor nach dem Verbleib und erfuhr, die Gesellschaft Vergueiro habe «die Verhältniße so eingerichtet, daß die Colonisten bei ihr so viele Schulden haben, daß der jährliche Preis des verkauften Caffe jeweilen nicht zu Dekung deßelben, geschweige denn zu Abbezahlung der Vorschüße an die Gemeinde hier reiche und daß die Colonisten selbst in dem elendesten Zustand sich befinden».
Auf der grössten Kolonie, Ibicaba, fühlten sich die Siedler wie Sklaven behandelt, so dass sie ihrem Unmut schliesslich durch einen Aufstand Luft machten. Im bekannten Roman «Ibicaba» von Eveline Hasler, sind die dortigen Zustände eingehend beschrieben. Die schweizerischen Bundesbehörden sahen sich schliesslich zu einem scharfen Notenwechsel mit der brasilianischen Regierung veranlasst und schickten 1860 einen Sondergesandten, Johann Jakob Tschudi, zur erneuten Abklärung der Verhältnisse in die Provinz São Paulo. Tschudis Bericht über die Aargauer Siedler traf im Spätherbst beim aargauischen Regierungsrat ein. Die Teufenthaler Kaffee-Pflanzer scheinen relativ Glück gehabt zu haben. Die Verhältnisse in ihrer Kolonie São Lourenço wurden als günstiger bezeichnet als anderswo. Es gab hier Siedler, die ihre Schulden tatsächlich abbezahlt hatten. Wenn wir aber die Einzelschicksale betrachten, sah es für die Teufenthaler trotzdem nicht gut aus. Die harte Arbeit und das Klima setzte vielen zu, und auf einen grünen Zweig kamen sie nicht. Teils setzte ihnen auch das schon erwähnte System der Solidarhaftung zu, wonach sie auch die Schulden von verstorbenen Verwandten und ihnen Zugeordneten zu übernehmen hatten.
Dem Bericht von Tschudi und einigen weiteren Nachrichten können folgende Einzelheiten entnommen werden:
Familie Bruder: Familienvater Rudolf war schon am 5. Januar 1855 gestorben. Die hinterlassene Frau heiratete erneut einen Heinrich Senn, der als liederliches Subjekt beschrieben wird, der seine Stiefkinder sehr schlecht behandelte. Neue finanzielle Angaben fehlen.
Familie Mauch: Hier waren sogar beide Eltern gestorben, und der Onkel Jakob Mauch hatte sich mit unbekanntem Aufenthalt entfernt, so dass die inzwischen 11-15 Jahre alten vier Kinder allein zurückblieben. Wer sich ihrer annahm, wird nicht erwähnt. Sie schuldeten den Gemeindevorschuss – Heimatvorschuss genannt – von Fr.1767.48. Die kleinere Schuld an die Koloniebesitzer war vermutlich abbezahlt,.
Fritschi-Gruppe: Melchior Fritschi war noch 2400 Fr. schuldig, wovon 2298 Fr. Heimatvorschuss. Darin inbegriffen war offenbar die Vorauszahlung der Gemeinde für die vier ihm zugeteilten Hächler-Knaben. Der eine von diesen war inzwischen gestorben, so dass Fritschi für dessen Schuld sicher gerade stehen musste. Die drei anderen drei lebten inzwischen bei andern Kolonisten, zwei bei einem Bäcker in Rio Claro, weiter im Landesinnern.
Jakob Karrer: Er wird in Tschudis Bericht ohne jede weitere Angabe aufgeführt. Es ist zu vermuten, dass er später in die Schweiz zurückkehrte. Sein Todesdatum ist nämlich im Teufenthaler Bürgerregister ohne Hinweis auf einen fremden Sterbeort eingetragen (26.02.1889). Von Karrers Begleiterin, Witwe Mauch mit ihren Kindern, erfährt man gar nichts mehr.
5. Teil
Was weiter geschah
Schon 1858 wandte sich der schweizerische Konsul in Rio de Janeiro wegen der elenden Lage der Kolonisten hilfesuchend an den Bundesrat. Es kam der Gedanke auf, die Gemeinden sollten auf das vorgeschossene Reisegeld verzichten, um die Not der Kolonisten etwas zu erleichtern. Das Geld würde wahrscheinlich ohnehin nie zurückerstattet. 1860 wies vor allem auch Tschudi in seinem Bericht immer wieder auf die Möglichkeit des Verzichts hin. Im Falle der Teufenthaler Siedler empfahl er ausdrücklich, den vier Hächler-Burschen solle der Heimatvorschuss erlassen werden. Während sich Unter- und Oberkulm schon bald zum Verzicht entschlosssen, zögerte die Teufenthaler Gemeindeversammlung und wollte zunächst nur den halben Betrag streichen. Schliesslich rang sie sich aber auch zum vollständigen Verzicht durch. Dazu ist zu bemerken, dass die Gemeinde im Fall der Reisegruppen Bruder und Karrer gar keinen Verlust hatte, da sie zweifellos auf deren Mittel greifen konnte, welche in Teufenthal zurückgeblieben waren und dort verwaltet wurden.
Vom weitern Schicksal der Familien Fritschi und Mauch haben wir leider keine Kenntnis. Dank dem Mail-Kontakt mit dem eingangs erwähnten Bruder-Nachkommen können wir aber über seine Vorfahren und Verwandten noch einiges berichten.
Irgendwann – der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt – verliessen die Geschwister Johannes, Jakob und Verena Bruder die Kaffeeplantage und zogen gemeinsam in die 1855 gegründete Stadt Botucatu, ebenfalls in der Provinz São Paulo gelegen.. Mit dem Geld, das sie inzwischen hatten ersparen können, kauften sie in der Umgebung Land für eigene Kaffeefarmen. Sie pflanzten dort auch Kartoffeln und Reis und besassen auch Vieh. Im Juni 1873 heirateten Johannes und seine Schwester am neuen Wohnort gleichzeitig Maria, bzw. Joseph Sauer, ein anderes Geschwisterpaar. Die beiden stammten aus Steinau in Schlesien. Jakob Bruder fand etwas später eine Bernerin als Frau, Elisabeth Krähenbühl aus Signau. Einige Familien, die sich alle in der Kolonie São Lourenço kennen gelernt hatten, heirateten mit Vorliebe immer wieder untereinander. Für die Bruder-Nachkommen spielten später ausser den Sauer und Krähenbühl unter anderem die Gröger, ebenfalls aus Steinau, die Schönebeck aus Siegen in Westfalen, die Krämer aus Eichenberg in Bayern oder die Gloor aus Oberkulm eine Rolle. Bruder-Nachkommen fanden sich auch gerne gegenseitig zusammen. Von der dritten Generation an kamen dann auch Heiraten mit Partnern und Partnerinnen zustande, die nicht deutschsprachiger Abstammung waren.
Überreste von Joãos ehemaligem Farmhaus
Die Stiefschwester der drei Bruder-Geschwister, Elisabeth aus der ersten Ehe ihres Vaters Rudolf, verliess die Kolonie, wo sie 1862 noch ausdrücklich erwähnt wird, zweifellos ebenfalls. Aus ihrem weiteren Leben ist nichts bekannt. Sie scheint unverheiratet geblieben zu sein. Ihr Todesdatum vom 14. November 1907 wurde erstaunlicherweis nach Teufenthal gemeldet und ins dortige Bürgerregister eingetragen. Als Todesort ist São Paulo vermerkt, wobei wir offen lassen müssen, ob die Provinz oder die Stadt gemeint ist.
Von Elisabeths Stiefgeschwistern wurden keine Daten mehr nach Teufenthal übermittelt. Ihre Kenntnis verdanken wir dem Nachkommen Roberto Bruder, einem Ururenkel von Johannes oder João Bruder, wie er in Brasilien genannt wurde. Dieser und seine Geschwister hatten eine sehr grosse Nachkommenschaft. Aus der Ehe von João gingen sechs Söhne und fünt Töchter hervor, aus der von Jakob vier Söhne und drei Töchter und aus der von Verena, die man zu Veronica umtaufte, vier Töchter und drei Söhne. Das waren nicht weniger als 25 Nachkommen von Rudolf Bruder schon in der dritten Generation. Sie trugen zum grösseren Teil den Namen Steiner, zum kleineren den Namen Sauer. Einzelne starben allerdings schon als Kinder. Für die vierte Generation vermag Roberto Bruder 73 Nachkommen aufzulisten, wobei er noch nicht sämtliche Linien vefolgt hat. Heute leben Hunderte von Bruder-Nachkommen. Ihre Familiennamen sind natürlich vielfältig, da die weiblichen Linien mitberücksichtigt sind.
Johannes/João und Maria Bruder-Sauer mit 7 von ihren 11 Kindern
Die Nachkommen von Rudolf Bruder haben sich schon wiederholt zu grossen Familientreffen versammelt, erstmals 1979, dann 1981 und 1983 und nach längerer Pause erneut 2015.
Familientreffen der Bruder-Nachkommen von 2015 in Botucatu
Ein weiterer Anlass ist bereits geplant. Alle «encontros» (Zusammenkünfte) fanden beim ehemaligen Haus von Johannes Bruder statt. Die erste Versammlung mit rund 400 Teilnehmern war die erfolgreichste. Es besteht auch eine Facebook-Gruppe der Bruder-Nachkommen mit über 400 Mitgliedern.
Damit beenden wir die Geschichte der Teufenthaler Brasilien-Auswanderer.
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Dokument
- Titel:Teufenthaler in Brasilien
- Autor:Peter Steiner, Reinach
- Veröffentlichung:1. März 2016
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Quellen
- Gemeindearchiv Teufenthal: Bürgerregister (zur Zeit im Reg. Zivilstandsamt Menziken/Burg); Gemeinderatsprotokolle Bd.6-8; Gemeindeversammlungs-protokolle Bd.5; Armenrechnungen 1850-1852; Fertigungsprotokolle Bd.10
- Staatsarchiv Aargau: IA 5, Auswanderung nach Brasilien 1857-1866; I 3 Bd.K, Rudolf und Elisabeth Bruder
- Internet: Hamburger Passagierlisten 1850-1934 (ancestry); Jakob Christian Heusser (Wikipedia);
- Persönliche Mitteilungen von Roberto Bruder Aguiar in McKinney, Texas
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Literatur
- Berthold Wessendorf, Die überseeische Auswanderung aus dem Kanton Aargau im 19. Jahrhundert, in Argovia 85, Aarau 1973
- Eveline Hasler, Ibicaba, Das Paradies in den Köpfen (historischer Roman)