Monatsbeiträge

Juli - Aug. 2023, Christian Märki

Kulmer Pitaval VI: Nach dem Ehestreit ins Gefängnis

1. Teil

Im Rahmen der Monatsbeiträge werden Kriminalfälle aus dem Bezirk Kulm vorgestellt. Es werden jeweils die Urteilstexte, wie sie im Amtsblatt publiziert wurden, wiedergegeben, anschliessend werden einzelne ausgewählte Aspekte beleuchtet.
Den Anfang machte die Darstellung eines versuchten Tötungsdelikts ("Bluttat in Beinwil"), anschliessend folgten der Fall einer im Jahre 1848 verübten Brandstiftung ("Der rote Hahn in Gontenschwil") und eines Diebstahls an einem Wirtshausgast ("Der bestohlene Gast"). In der Jahresschrift 202015/16 wurde eine Kindstötung in Leimbach näher beleuchtet.
In der Reihe wird nachfolgend ein im Jahre 1837 in Zetzwil begangener Diebstahl dargestellt, der vom Auslöser her und in den Tatumständen besonders interessant ist.

Nach dem Ehestreit ins Gefängnis

Wir Präsident und Obergericht des Kantons Aargau
urkunden hiemit:

Nachdem die mit Jakob Lüscher, Oedels, von Zezwyl, 30 Jahre alt, verehelicht, jedoch kinderlos, reformierten Glaubensbekenntnisses, seines Berufes ein Baumwollenweber, ohne Vermögen, wegen Anklage auf Diebstahl verführte und vor dem löbl. Bezirksgericht Kulm unterm 20. Merz abhin erstinstanzlich erledigte Kriminalprozedur Uns zur obergerichtlichen Untersuchung und Beurtheilung eingesandt worden, haben Wir nach genauer Prüfung und erklärter Vollständigkeit der Akten, so wie auf das angehörte Gutachten Unseres Berichterstatters und Unserer Kriminalkommission

befunden:

As dem freien gerichtlichen Geständnisse des in Untersuchung Gezogenen und den damit übereinstimmenden prozedürlichen Thatumständen ergebe es sich: am 4. Hornung abhin, nachdem Lüscher mit seiner Ehefrau einen heftigen Wortwechsel gehabt und er ihr am Ende damit gedroht, "etwas anstellen zu wollen, um von ihr los zu kommen" sei derselbe Abends um 7 ½ Uhr bei finsterer Nacht zu dem Hause des Heinrich Läubli von Zezwyl gegangen und habe sich, da er mit der Oertlichkeit in demselben von früherer Zeit her genau bekannt gewesen, auf der obern Seite des Wohnhauses durch die Bühne auf die Laube und von da aus durch die Stiege hinunter in die unteren Gemächer sich begeben und daselbst den in einer Nebenstube befindlichen Schrank mittels eines aus der Küche mitgenommenen Beils aufgesprengt . Zuerst habe er nun ein dem Grosssohn Hans Jakob Läubli angehörendes Kästchen behändiget und das in demselben vorgefundene, in einem Papier eingewikelte Geld zu sich gesteckt; dann sei er wieder in das Gemach zurückgekehrt und habe sich noch das in einer Blase und in einem Geldbeutel aufbewahrten Geldes bemächtigt. Mit der entwendeten Barschaft wolle sich Lüscher noch am gleichen Abend in zwei Wirthshäuser verfügt, daselbst einige Wirthsschulden im Betrage von Fr. 1.9.5. bezahlt und am folgenden Morgen noch Fr. 2.2.7 ½ ausgegeben, das übrige Geld aber, ohne solches gezählt zu haben in einem Acker seines Stiefvaters vergraben haben, woselbst denn auch wirklich noch Fr. 92 7 btz. 7 ½ rp, meistens an Silbergeld, vorgefunden worden seien.
Zwar hätten die Bestohlenen den Betrag des ihnen ab Handen gekommenen Geldes auf Fr. 110.1 bis 122.6 angegeben; allein da sie selbst erklärt, zu dieser Angabe nicht gut stehen zu können, so sei unter Umständen jedenfalls nur die geringere Summe als Betrag des verursachten Schadens anzunehmen, wovon aber die wieder aufgefundenen Fr. 92 5 7 ½ sofort unter die Bestohlenen verteilt worden seien, so dass mithin, mit Inbegriff des beschädigten Kästchens und des Geldbeutels , beides im Werthe von btz. 12 ½ nur noch Fr. 18. 5. 7 ½ durch den Dieben zu ersetzen sei.
Diesem prozedürlich ausgemittelten Thatbestande zufolge falle also dem Lüscher das Verbrechen des mehrfach beschwerten Diebstahls zur Last, indem die begangene Entwendung den Betrag von Fr. 30 beträchtlich übersteige und ausserdem zur Nachtzeit und zugleich noch an verschlossenem Gute begangen worden, so dass in dieser Hinsicht die Anwendung des § 151. des peinl. Strafgesetzes erforderlich werde, welcher vorschreibe, dass, wenn zu dem was schon an und für sich zur Eigenschaft eines Kriminalverbrechens genug wäre, noch ein fernerer erschwerender Umstand hinzu trete, Kettenstrafe zeitlich im ersten oder zweiten Grade erkennt werden müsse.
Demnach haben Wir, in Bestätigung des bezirksgerichtlichen Urtheils und in Berücksichtigung der den Fall begleitenden mehrfachen Erschwerungsgründe

Einstimmig
Zu Recht gesprochen und erkennt:
Jakob Lüscher habe sich des Verbrechens des beschwerten Diebstahls schuldig gemacht und solle daher in Anwendung des § 151 des peinl. Strafgesetzes zur Kettenstrafe zeitlich im ersten Grade auf die Dauer von vier Jahren, so wie zum vollständigen Schadenersatz und zur Bezahlung der sämmtlichen Untersuchungs- und Gefangenschaftskosten verurtheilt sein.
Dem Rudolf Läubli, Wächters von Zezwyl, welcher auf unschuldige Weise mit in diese Untersuchung gezogen worden und vier Tage in Verhaft sich befunden, soll aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von acht Franken entrichtet werden. V.R.w.
Urkundlich dessen haben Wir dieses Strafurtheil mit unserem Siegel verwahren und durch Unseren Hg Herrn Präsidenten und Unseren Unterschreiber unterziehen lassen.
Gegeben in Aarau den 10. April 1837

Der Präsident des Obergerichts
T a n n e r
Im Namen des Obergerichts
Der Unterschreiber

2. Teil

Dem Diebstahl ging ein Streit Lüschers mit seiner Ehefrau voraus, in dessen Verlauf der Ehemann die Aussage machte, er werde etwas anstellen, um von der Frau loszukommen. Der Weg Lüschers über eine Bühne auf die Laube und eine Stiege hinunter wird detailliert beschrieben, ebenso die eigentliche Tathandlung mit dem Aufbrechen des Kastens und dem durchsuchen der Behältnisse. Ein Teil der Beute lag in Papier eingewickelt in einem Kästchen, ein Teil war in einem Geldbeutel und in einer "Blase". Letztere wird eine Schweinsblase sein, welche als Geldbeutel diente (vgl. Idiotikon, Band V [1902] S. 208) Stichwort Blatere). Der gestohlene Betrag konnte nicht genau festgesellt werden. Es wurde letztlich von dem Betrag ausgegangen, der sichergestellt werden konnte, vermehrt um die vom Dieb verbrauchten 4 Franken und 20 ½ Rappen. Da immerhin fast Fr. 93.00 sichergestellt werden konnten, belief sich der Gesamtschaden, zusammengesetzt aus dem nicht beigebrachten Geld, der Beschädigung des Kästchens und dem Wert des Geldbeutels auf etwas über Fr. 18.00.

Lediglich aus dem Dispositiv des Urteils geht hervor, dass nach dem Diebstahl sich der Verdacht gegen Rudolf Läubli, wohl einen Verwandten der Bestohlenen richtete und dieser in Haft genommen wurde. Für die zu Unrecht in Haft verbrachte Zeit wurde er mit acht Franken entschädigt. Wie man Lüscher auf die Schliche kam, ist nicht beschrieben.

Werfen wir einen Blick auf die gesetzlichen Grundlagen! Massgebend war das Aargauische Gesetzbuch über Kriminalverbrechen von 1804, das im 13. Titel die Strafbarkeit der Vermögensdelikte regelte.

In § 146 wurde der Grenzbetrag für die Qualifikation des Diebstahls als "Kriminal-Verbrechen" bei Fr. 30.00 festgesetzt. Massgebend war dabei nicht der Vorteil, den der Dieb aus seiner Tat zog, sondern der Schaden, der dem Bestohlenen erwuchs. Bezüglich der Qualifikationsmerkmale der Beschaffenheit der Tat hielt § 147 fest, dass ohne jede Rücksicht auf den Deliktsbetrag ein Diebstahl zum Kriminalverbrechen wurde, wenn er während einer Feuersbrunst, einer Wassernot oder einer weiteren Bedrängnis begangen wurde (Abs. 1 lit. a), wenn der Dieb ein Gewehr oder ein anderes gefährliches Werkzeug mit sich führt (Abs. lit.b). Ab einem Betrag von Fr. 10.00 wurde der Diebstahl qualifiziert, wenn er bandenmässig begangen (Abs. 2 lit. a), oder an einem dem Gottesdienst geweihten Orte, an verschlossenem Gut oder zur Nachtzeit verübt wurde (Abs. 2 lit. b bis d).

Durch § 148 besonders geschützt wurden "unmittelbar zum Gottesdienst gewidmete Sachen", Feld- und Baumfrüchte, das Vieh auf der Weide, die Ackergerätschaften auf dem Felde sowie Güter- und Warenwagen (lit. a –d); qualifiziert war auch ein Diebstahl, der "ab einer Bleiche verübt worden".

Auf das Qualifikationsmerkmal der Verübung zur Nachtzeit wurde im Rahmen des Monatsbeitrages Januar 2017 eingegangen. In einer Zeit ohne nennenswerte Beleuchtungsmöglichkeiten hatte die Nacht eine ungleich grössere Bedeutung. Früher waren die Nächte stockfinster, was vielerlei Gefährdungen mit sich brachte. Der erhöhten Verletzlichkeit in der Nacht wurde über eine Erhöhung der Strafe, andererseits auf dem Wege der Qualifizierung der Straftat und damit einer höheren und schärferen Strafe. Rechnung getragen. Die Qualifikation in § 148 zeigt die Bedürfnisse einer stark religiös geprägten Gesellschaft und landwirtschaftlich dominierten Wirtschaft auf.

Lüscher häufte mit seiner Tat gleich mehrere Umstände auf, welche Straferhöhung und –schärfung nach sich zogen: die Tat wurde in der Nacht begangen, der Dieb vergriff sich an verschlossenem Gut, indem er in Wohnräume eindrang und dort Behältnisse aufbrach, und der erbeutete Betrag überstieg den Grenzbetrag um ein Mehrfaches. Die Strafe fiel entsprechend hoch aus: die Kettenstrafe von vier Jahren erscheint aus heutiger Sicht für den einmaligen Diebstahl als sehr hoch. Ob sich die Tat gelohnt hat, um von der Frau wegzukommen, darf angesichts der damaligen Haftbedingungen wohl bezweifelt werden.

  • Dokument

    • Titel:
      Kulmer Pitaval VI: Nach dem Ehestreit ins Gefängnis
    • Autor:
      Christian Märki
    • Veröffentlichung:
      1. Juli 2023
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  • Quellen

    • Aargauisches Gesetzbuch über Kriminalverbrechen vom 19. Christmonat 1804
    • Aargauisches Kantonsblatt Nr. 17 vom 29. April 1837
  • Literatur

    • Mirko Lenarcic, Das Strafrecht des Kantons Aargau von 1803 bis 1868 mit Schwerpunkt auf dem Kantonal-Aargauischen Gesetzbuch über Kriminalverbrechen vom 19. Christmonat 1804, Europäische Rechts- und Regionalgeschichte Band 13, Dike Verlag 2011
    • Kulmer Pitaval IV, Der bestohlene Gast, Monatsbeitrag Historische Vereinigung Wynental Januar 2017
    • Elmar Lutz, Die Nacht im Recht in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Hrsg. Louis Carlen, Band 2, Zürich 1979