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Nov - Dec 2021, Katja Schlegel

Einst sangen sie von der Menziker Missgeburt und dem Rueder Beil-Mörder

1. Teil

Der Anblick des toten Neugeborenen; fürchterlich muss er gewesen sein. Kein zartes Menschenkindlein, sondern eine Kreatur, so grässlich anzuschauen, dass sich seine Geschichte im ganzen Land verbreitete. Auf den Marktplätzen und in Wirtschaften kletterten die Mannen auf Brunnentröge und Tische und sangen über die Köpfe der verschreckten Zuhörer, hört her ihr Christenleut, was da in Menziken Schlimmes passiert ist, und die Leute reckten die Hälse und lechzten, sogen auf das Furchtbare und schlugen sich die Hände vors Gesicht, so schrecklich hörte es sich an, und daheim sanken sie darnieder und beteten und flehten, bis die Knie brannten.

Es soll am 13. August 1663 geschehen sein, dass in «in Mantzigken bey Reinach» ein fürchterlich entstelltes Kind geboren wurde. Das Kind von Rudolf Stachel und Maria Fuchs, welch liederliches Gelump; verheiratet zwar, aber verrucht und gottlos. Und es war nicht die einzige Geschichte aus unserer Region, die damals die Menschen zu Zucht und Ordnung mahnen sollte: Nur ein paar Monate zuvor, im Mai 1663, hatte die Geschichte über den Rueder Büchsenschmied Christen Berchtold die Runde gemacht, der mit dem Beil drei seiner Kinder im Schlaf erschlagen und seine Frau schwer verletzt hatte.

Woher man das weiss? Beide Geschichten wurden in Versform niedergeschrieben und als sogenannte Liedflugschriften verbreitet.

Sie gelten als Vorgänger der heutigen Zeitung: Für wenig Geld wurden diese kleinformatigen, meist anonym herausgegebenen Heftchen im 16. und 17. Jahrhundert von Händlern auf den Märkten verkauft. Noten für die Melodien waren nicht notwendig, die Verse wurden auf gängige, allgemein bekannte Melodien gesetzt. Manche Schriften erreichten eine Auflage von bis zu 5000 Stück.

Die Universitätsbibliothek Bern bewahrt Hunderte dieser Liedflugschriften auf. Und hier hat der deutsche Liedflugschriftenspezialist Eberhard Nehlsen, Lehrbeauftragter am Institut für Musik an der Uni Oldenburg, die hiesigen Liedflugschriften vor fünf Jahren, im Herbst 2016, gefunden. Bei der Durchsicht von Aufzeichnungen zu den Lieddrucken aus den Beständen der Uni Bern stockte er bei den Namen «Mantzigken bey Reinach» und «Rued Lentzburger-Ampts». Der Zufall will es, dass Nehlsen ab und zu in der Region zu Besuch ist. Die beiden Namen liessen ihn aufhorchen.

Um möglichst viele Lieder zu verkaufen, sparte man schon damals nicht mit süffigen Adjektiven und schauerlichen Zeichnungen. Mit der Sensationslust von damals war es nicht anders als heute: je blutrünstiger, je versauter, desto besser, desto grösser der Absatz. Und so werden auch die Menziker und Rueder Begebenheiten in aller Deutlichkeit ausgewalzt, bis es auch den härtesten Kerl vor Graus schüttelt:

«Der ganze Leib aussehen thut
natürlich wie ein rothes Blut
ganz lind zu greiffen an
jedoch kein Augen, Nas noch Mund
an ihme man nicht sehen kund.»

So geht es weiter. Der Sänger erzählt von einem mit drahtigem Flaum bewachsenen Köpfchen, dazu am Bauch ein Stück Fleisch, ein langer Nabel, steinhart und ungestalt. Auf der linken Seite habe das Kind einen Arm samt Hand gehabt, daran aber nur vier Finger, und die Beine kurz und dick, wie Pfeiler, und ohne Füsse daran.

Der schreckliche Vorfall lässt sich im Reinacher Taufrodel überprüfen. Die Namen der Eltern und das Datum stimmen überein. Hingegen lebte Familie Stachel in Wirklichkeit nicht in Menziken, sondern in Reinach. Ob jemand den Menzikern eins auswischen wollte? Auch findet sich im Rodel eine Notiz über eine Missgeburt: «ein grußam Monster gebohren ohne Haupt». Mit «ohne Haupt» ist wohl der gesichtslose Kopf gemeint.

2. Teil

Der Reiz dieser Liedflugschriften ist noch heute gross, sie spiegeln das Leben der frühen Neuzeit in seiner ganzen bunten Vielfalt wider. In der Schweiz spielten Lieder über die Geschichten der Eidgenossenschaft eine grosse Rolle, doch deckten sie auch die ganze Bandbreite des Alltags ab. Manche berichteten von der Liebe oder trinkseligen Abenden, viele von aktuellen Ereignissen wie Kriege, von führenden Gestalten in der Politik, von Naturkatastrophen, von Unglücksfällen und Missgeburten, sensationellen Ereignissen aller Art. Dazu kamen die geistlichen Lieder, die von biblischen Geschichten, dem christlichen Lebenswandel oder den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen handelten.

Herausgegeben wurden die Liedflugschriften meist anonym; Angaben zu Drucker und Ort waren nicht selten frei erfunden. Auch bei den Angaben auf der Menziker Liedflugschrift – «Gedruckt in Konstanz von David Haut» - zweifelt Nehlson. Er ist vielmehr der Meinung, dass die Schrift in Bern bei Georg Sonnleitner gedruckt wurde. Dafür würden die Drucktypen und der Buchschmuck sprechen, die beide bei Georg Sonnleitner vorkommen. Laut Nehlson war Georg Sonnleitner ein sehr aktiver Drucker in Sachen Liedflugschriften, der aber nur selten seinen Namen hinzusetzte (die Drucke hatten also gar kein Impressum) und manchmal andere Druckorte und Drucker im Impressum angab. Er wollte wohl als seriöser Drucker nicht mit solchen erfundenen Geschichten in Verbindung gebracht werden.

Wie glaubhaft diese Geschichten sind, ist ganz unterschiedlich: Ein Teil der besungenen Ereignisse beruht zweifellos auf tatsächlichen Begebenheiten, beispielsweise Umweltkatastrophen, Unglücksfälle, Morde und andere Straftaten. Andere Ereignisse sind aber so blumig ausgemalt, dass der wahre Kern fast verschwindet, wieder andere sind frei erfunden, beispielsweise Lieder über Geistergeburten, über eine menschliche Hand, die aus einem Amboss wächst, oder über Möbel, die Blut schwitzen. Sie alle haben aber einen gemeinsamen Nenner: die Interpretation der Ereignisse als Strafe oder Mahnung Gottes. Und die Aufforderung an die Zuhörer, Busse zu tun und von Sünden abzulassen.

Besonders deutlich wird das im Rueder Lied über den Beil-Mörder:

«Morgens gar früh thun mich verstahn
Thut er aus seinem Beth auffstahn
Ein Biel nimbt in sein Hande
Fang an und hawt sein eigne Kind
Erbärmiglich in den Leib geschwind
Mit Jammer und Ellende.
Als er nun zwen getödet hat
Das dritte ihn gar fründlich batt
Ach Vatter lass mich leben
Schaw wie von diesem rünt das Blut
Erschröckenlichen mit unmuth
Doch möchts ihn nicht bewegen.
Der Teuffel ihn besessen hat
Noch grimmiger auch herzu thrat
Fang mit dem Beil an hawen
Mit grossem Schmerzen in seinen Leib
Biss es todt in der Stuben bleib
Darab hat er kein grawen.»

Als er die drei Kinder erschlagen hat, so das Lied, wendet der Berchthold sich in seiner Raserei dem Eheweib zu, die im Bett liegt mit dem jüngsten Kind. Bevor er auf sie einschlägt, lässt diese das Kind unters Bett fallen, um es zu schützen. Der Berchthold bemerkt das nicht und haut auch noch die Wiege in Stücke. Nachbarn, die das Geschrei im Haus hören, überwältigen den Mann schliesslich, noch bevor er sich selber mit dem Beil zu Tode schlagen kann. 61 Wunden habe man an ihm gezählt. Das Kind unter dem Bett überlebt. Gott hat das Kindlein beschützt, wird gesungen, und Gott hat es nicht zugelassen, dass sich der Mörder selbst richtet.

«Das Gebätt hat er unterlahn
Darumb hat ihn Gott auch fallen lahn
Sein Hand von ihm gezogen
Weil er nicht gefolget Gottes Wort
Hat er sich brach in Angst und Noth
Der Feind hat ihn betrogen.»

Dem Berchthold wird in Lenzburg der Prozess gemacht und zum Tode verurteilt. So singts der Kolporteur auf dem Marktplatz und die Zuhörer schauderts, kalt rieselt ihnen die Angst über den Rücken. Und glühend heiss fährt sie ihnen ein, die Moral von der Geschicht:

«Ihr lieben Christen Fraw und Mann
Thund dis zur Warnung nehmen an
Thund fleissig daran denken
Heben zu Gott auf ewre Hönd
Dass er sein heiligen Geist euch send
Der uns sein Trost thu schencken.»

Und das Menziker Kindlein? Es sei erst begraben worden, so wurde gesungen, nachdem es überall herumgezeigt worden war, um allen einen gehörigen Schrecken einzujagen. Und um allen gewahr zu machen, was passiert, wenn man die Gebote bricht.

  • Dokument

    • Titel:
      Einst sangen sie von der Menziker Missgeburt und dem Rueder Beil-Mörder
    • Autor:
      Katja Schlegel, Aarau
    • Veröffentlichung:
      1. Nov 2021
    • Download:
  • Quellen

    • Auskünfte von Eberhard Nehlsen
    • Universitätsbibliothek Bern: MUE Rar alt 474:2:6 (Menziker Liedflugschrift)
    • Universitätsbibliothek Bern: MUE Rar alt 474:2:7 (Rueder Liedflugschrift)

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