Monatsbeiträge

Okt. - Nov. 2018, Peter Steiner

Der Reinacher Lindenplatz und seine Geschichte

1. Teil

Kürzlich war der Lindenplatz in Reinach Mittelpunkt einer Feier. Die Historische Vereinigung Wynental machte zu Ehren ihres 90-jährigen Bestehens mit. Der Platz hat sein Aussehen in der Vergangenheit und bis in die jüngste Gegenwart wiederholt verändert. Ein Blick auf seinen Werdegang bietet sich an.

Der Platz hat eine lange Geschichte. Noch im späteren Mittelalter befand sich an dieser Stelle gar kein Platz. Nur ganz wenige Gebäude säumten hier die Hauptstrasse oder Landstrasse, wie man sie früher nannte. Ein Dorfkern fehlte, jedenfalls im Oberdorf.

Ausgangspunkt für den späteren Dorfplatz war zweifellos die Reinacher Mühle. Diese wird bereits im berühmten Habsburger Urbar oder Güterverzeichnis von 1300 erwähnt und bestand damals schon länger. Festgestellt wird im Urbar, die Herren von Rynach – sesshaft auf ihrer Stammburg am Platze des heutigen Burger Schulhauses – hätten das Mühlenrecht an sich gerissen. Es stand zuvor den «Oberherren», den Kyburgern und nun eigentlich ihren habsburgischen Nachfolgern zu. Geleitet wurde der Betrieb natürlich nicht von den adligen Herren, sondern von einem ansässigen Müller, der jetzt den Rynachern zinspflichtig war. Standort muss die Stelle gewesen sein, wo sich die Mühle auch Jahrhunderte später befand. Doch zurück zum Spätmittelalter: Auf der gegenübrliegenden Strassenseite, etwas nördlich versetzt, stand das Wohnhau des Müllers. Dessen einstige Existenz dokumentierte bis in die Gegenwart ein Dachziegel mit der Jahrzahl 1489. Das wertvolle Erinnerungsstück fiel unglücklicherweise 1999 dem Brand des Schneggli-Gebäudes zum Opfer, wo es die Historische Vereinigung Wynental aufbewahrt hatte.

Ältestes Zeugnis vom nachmaligen Lindenplatz: Dachziegel des Schneggen-Vorläufers von 1489

Ältestes Zeugnis vom nachmaligen Lindenplatz: Dachziegel des Schneggen-Vorläufers von 1489

Dadurch ging vermutlich das älteste Reinacher Bauzeugnis verloren. Erhalten hat sich lediglich eine Fotografie. Das Wohngebäude des Müllers war wohl ursprünglich eines der einst üblichen Holzhäuser mit Strohdach, wurde aber offensichtlich durch einen Steinbau mit Ziegeldach ersetzt. Der wohlhabende Wohnhausbesizter hiess damals bereits Hauri.

Um 1500 lässt sich am nachmaligen Lindenplatz lediglich ein weiteres Haus feststellen. Etwas entfernt von den beiden Gebäuden des Müllers befand sich ein einfaches Bauernhaus. Es stand Im nördlichen Winkel von Landstrasse und Pfeffikerstrasse, die damals Angelus- oder Angelgasse hies. Die Pfeffiker nennen sie noch heute so.

Das Schneggen-Bild von 1988 <br>zeigt  den ursprünglichen Zustand besser <br>als ältere Aufnahmen vor der Restaurierung

Das Schneggen-Bild von 1988
zeigt den ursprünglichen Zustand besser
als ältere Aufnahmen vor der Restaurierung

Die weitere bauliche Entwicklung war weitgehend der Müllerfamilie Hauri zu verdanken. Diese dominierte damals besitzmässig das Oberdorf, wenn man es überhaupt schon so nennen darf. Alles Land um den nachmaligen Lindenplatz und in weitem Umkreis war Eigentum des Geschlechts. Die drei Gebäude wurden vor 1600 alle ersetzt oder erweitert. Der damalige Untervogt Hans Hauri baute das Steinhaus in zwei Etappen, 1583 und 1604-06, zum Schneggen mit seinem charakteristischen Turm aus. Der Mann hatte Geld! Jedenfalls eine erstaunliche Leistung, von der Reinachs «Gesicht» bis heute profitiert. Der gleiche Hans Hauri erstellte 1599 an Stelle des eingegangenen Angelgass-Hauses den Gasthof zum Bären, der für 200 Jahre einziges Reinacher Wirtshaus bleiben sollte. Es verfügte noch nicht über den westlichen Saalanbau und war vermutlich auch sonst bescheidener als heute. Die Mühle aber hatte Hans Hauris Vater Welti bereits 1561 ausgebaut. Später, 1698, brannte das Gebäude nieder und wurde durch den uns heute als Alte Mühle bekannten Bau ersetzt.

Zehn Jahre vor dem «Bären» war im Strassenwinkel gegenüber ein Korn- und Kaufhaus entstanden, das heutige Gemeindehaus. Bauherr war zwar der bernische Staat, der hier Getreide einlagerte und bei Bedarf zum Kauf anbot. Doch Untervogt Hauri war insofern beteiligt, als er den Bauplatz den Herren zu Bern käuflich abgetreten hatte. Die Gegend war zum wirtschaftlichen Zentrum des Dorfes geworden und nahm langsam Platz-Charakter an. Auf der Ostseite, gleich nördlich der Mühle, gesellten sich nämlich zwei weitere Gebäude dazu, 1611 eine Schmiede von Müller Hauri (in neuerer Zeit hier WSB-Bahnhof), schon vor 1589 ein Wohnhaus, das viel später einmal von der Tätigkeit des Bewohners den Namen Seifenhüsli bekam (heute Parkplatz der Valiant Bank). Auch die Anfänge des Reinacher Marktes gehen in diese Zeit zurück. Ergänzt sei, dass damals unterhalb des «Bären» noch keine Brücke über die Wyna führte. Die Landstrasse blieb auf der linken Flussseite (Stumpenbach).

2. Teil

Für rund 200 Jahre gab es kaum mehr Erweiterungen, mit einer Ausnahme. In den 1680er Jahren erbaute Heinrich Hauri, ein Enkel des Dorfmagnaten Hans Hauri und ebenfalls Untervogt, den Kleinen Schneggen, heute meist Schneggli genannt. Er kam südlich der Mühle, etwas ausserhalb des werdenden Platzes zu stehen. Seither zogen auf verhältnismässig engem Raum gleich vier repräsentative Steinbauten die Blicke auf sich: die beiden Schneggen, das Kornhaus und die Taverne. Im übrigen Dorf fehlten steinerne Häuser hingegen noch weitgehend.

Ältestes Bild (Gouachmalerei) des Lindenplatzes aus dem Jahr 1839 mit der unübersehbaren Linde

Ältestes Bild (Gouachmalerei) des Lindenplatzes aus dem Jahr 1839 mit der unübersehbaren Linde

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Bestehende abgerundet. Zwar war das Schmiedegebäude unterhalb der Mühle vor 1800 abgegangen und durch einen Garten ersetzt worden. Doch kamen auf jeder Seite zwei neue Häuser hinzu. Auf der Westseite füllte man die Lücke zwischen Kaufhaus – inzwischen Gemeinde- und Schulhaus – und Schneggen; im Osten ergänzte man die Häuserzeile nordwärts. Die Gemeinde Reinach erstellte 1850 neben dem Gemeindehaus ihren Landjägerposten, der 1913/14 durch ein grösseres Gebäude ersetzt wurde, das in neuerer Zeit als Gemeindehaus 2 diente. (Man vergleiche den Monatsbeitrag vom August 2014 über den Reinacher Polizeiposten.) Der Schlosser Jakob Aeschbach fügte 1863 ein Wohnhaus mit Laden hinzu (bis in jüngste Zeit wenig verändert).

Auf der Ostseite war der unternehmungslustige Seifensieder Johannes Hunziker, Seifenhannes genannt, 1870 für ein Gebäude besorgt, das im Südteil die Wirtschaft zur Waage, in der Mitte die Seifensiederei und im Nordteil einen Laden (zeitweise Buchhandlung Sauerländer) beherbergte. 1896 nahm dann in der Mitte die Bank in Reinach Einsitz. Nördlich des dreiteiligen Gebäudes war schon 1834 durch den Kupferschmied Daniel Fischer ein weiteres Haus erstellt worden, das später noch eine Verlängerung erfuhr und bis in neuere Zeit 2-3 Läden aufwies. Der Platz wirkte nun vollendet,war beidseits geschlossen.

Westseite des Platzes mit Schneggen und Geschäftshaus um 1905; links die alte Mühle, dahinter der Schneggli-Turm

Westseite des Platzes mit Schneggen und Geschäftshaus um 1905; links die alte Mühle, dahinter der Schneggli-Turm

Seit unbekannter Zeit gehörte zum Platz auch sein «Markenzeichen», die Linde. Im früheren 19. Jahrhundert waren es sogar zwei Bäume. Nach der Linde benannt wurde der Platz aber erst seit etwa 1900. Zuvor sprachen die Reinacher vom Schulhaus- oder Bärenplatz, vorübergehend etwas hochtrabend sogar vom Pariserplatz. Offensichtlich waren sie stolz auf ihr schönes Dorfzentrum. Die Linde wirkte ursprünglich noch dominierender, war näher gegen die Platzmitte gerückt, Im Laufe des 20. Jahrhunderts musste sie dann vor dem wachsenden Verkehr etwas zurückweichen. Vor kurzem geschah das bekanntlich ein zweites Mal.

In jüngerer Zeit wurde es für den Lindenplatz, wenn wir ihn als lebendes Objekt betrachten dürfen, ungemütlich. Es begann mit dem Grossen Schneggen. Dessen baulicher Zustand war sehr schlecht geworden, wie sich schon von aussen feststellen liess. Verborgen blieb prüfenden Blicken, dass er einsturzgefährdet war. Man stelle sich vor, Reinach hätte seinen Schneggen, sein prachtvolles Wahrzeichen verloren! Zum Glück war er inzwischen im Besitz der Gemeinde. Zuvor war er als Vorderer und Hinterer Schneggen besitzmässig getrennt gewesen, was mit ein Grund für die bauliche Vernachlässigung war. Die Gemeinde scheute die Kosten nicht und liess das Bauwerk 1986 vollständig restaurieren und im Innern sinnvoll umbauen.

Nächster «Patient» wurde im August 1999 das Schneggli, inzwischen ebenfalls in Gemeindebesitz. Ein Brand, ausgebrorchen in den benachbarten Gebäuden der Drahtfirma Vogt, zerstörte es zum grossen Schrecken der Bevölkerung zu einem guten Teil. Das stolze Gebäude war nur noch Ruine. Stark betroffen durch den Brand war auch unsere Vereinigung. Von unserer Sammlung waren Gegenstände wie der erwähnte Ziegel für immer verloren. Auch Jahresschriften, ironischerweise gerade die Geschichte der beiden Schneggen, waren dem Feuer zum Opfer gefallen.

Ostseite des Platzes um 1920, links der Gasthof zum Bären

Ostseite des Platzes um 1920, links der Gasthof zum Bären

Unsere Vorstandsmitglieder engagierten sich stark. Es galt zu retten und auszulagern, was noch da war, und das war glücklicherweise der grössere Teil unseres Besitzes. Inzwischen zeigte sich im Dorf eine einhellige Meinung. Das Schneggli musste auferstehen. Tatsächlich liess es sich in mühsamer dreijähriger Arbeit und dank dem entschlossenen Einsatz von Fachkräften erneuern. Man sieht dem Gebäude seither des Unglück nicht mehr an.

Nur vier Jahre später wäre es dem dritten historischen Gebäude beinahe «an den Kragen» gegangen, der ehemaligen Mühle, ohne die sich der Lindenplatz gar nie entwickelt hätte. Im Haus waren für längere Zeit die Büros der Firma Vogt untergebracht gewesen. Neue Besitzer stellten nun – man hält es kaum für möglich – ein Abbruchgesuch. Sie hätten wohl ein Mehrfamilienhaus erstellen wollen. Das liebe Geld! Doch von verschiedener Seite, energisch auch von unserem Vereinsvorstand, wurde beim zuständigen Gemeinderat Einsprache erhoben. Dieser war vermutlich froh über den Sukkurs, da er sich ja selber über ein «Todesurteil» kaum freuen konnte. Nun, das Mühlengebäude blieb stehen. Die Gemeinde übernahm es später ebenfalls und liess es im Innern erneuern.

Abgesehen von den drei Kernbauten erlebte der Lindenplatz in neuerer Zeit starke Veränderungen. Nicht alle gereichten zu seinem Vorteil. Auf der Ostseite haben die Bank in Reinach und die nachfolgende Valiant-Bank die beiden Häuser aus dem 19. Jahrhundert teils umgebaut, teils durch einen Neubau ersetzt und zu einem einzigen Baukörper zusammengeschlossen. Dieser bedeutet eine starke Modernisierung, fügt sich aber in die Umgebung ein, da man bei den Ausmassen (Höhe) Rücksicht nahm. Südlich davon wurde in jüngerer Zeit das WSB-Gebäude abgebrochen. Es war gewiss kein Bijou gewesen, aber hatte irgendwie dazu gehört, war naturgemäss ein Anziehungpunkt für die Bevölkerung. Und es hinterliess eine Lücke. Sie fiel zusammen mit der unüberbauten Parkfläche der Valiant-Bank gegenüber doch unerfreulich auf. Schliesslich wurde die Lücke verkleinert. Aber wie! Der Neubau der UBS ist alles andere als ein Glücksfall. Und ein eigentliches Schandmal stellt die sogenannte Casa Schneggli dar. Zusammen mit der UBS stösst der gewaltige Baukörper aus dem Hintergrund weit gegen den Lindenplatz vor und stört den Blick auf die historischen Bauten. Er passt wie die Faust aufs Auge. Wieso liess man ein solches Bauvorhaben zu?

Gesündigt wurde auch auf der Westseite. Durch den Abbruch des ehemaligen Polizeipostens und des angrenzenden Geschäftshauses entstand eine noch empfindlichere Lücke, die durch Bäume nur notdürftig kaschiert wird. Ein echter Platz verlangt möglichste Geschlossenheit! Wenn die beiden alten Gebäude nicht mehr den Bedürfnissen entsprachen, hätte sich ein gefälliger Neubau erstellen lassen. Dann hätte das Reinacher Bauamt wieder in erreichbarer Nähe Platz gefunden! Oder vielleicht wäre ein neues Verkaufsgeschäft denkbar gewesen.

Schliesslich wurde dem Lindenplatz ein Kreisel zugemutet, und die Linde musste sich noch einmal verschämt zurückziehen. Es gibt Reinacher, die davon schwärmen, der Platz habe gewonnen, sehe jetzt schöner aus. Nun, die «Geschmäcker» sind sehr verschieden. Die seinerzeitige Entfernung der Bahnschienen ist sicher positiv zu werten. Aber der Kreisel mitten auf dem Platz und die teils vermeidbaren baulichen Änderungen? Eines ist klar: Der Lindenplatz ist für uns Bewohner definitiv kein Ort der Begegnung mehr. Flanieren, Einkaufen, sich Treffen, Plaudern findet nicht mehr statt. Darüber hinweg täuschen können auch Bank und Gemeinderveraltung nicht. Sie sind Treffpunkte anderer Art. Begegnung ist allenfalls noch in den beiden Wirtschaften möglich, doch vorwiegend im Innern. Auf dem Platz selber begegnen sich nur noch die Autos.

  • Dokument

    • Titel:
      Der Reinacher Lindenplatz und seine Geschichte
    • Autor:
      Peter Steiner, Reinach
    • Veröffentlichung:
      1. Okt. 2018
    • Download:
  • Quellen

    • P. Steiner, Reinach, 1000 Jahre Geschichte, 1995
    • P. Steiner, Die beiden Reinacher Schneggen, Jahresschrift HVW 1987/88
    • P. Steiner, Geschichte des Lindenplatzes, Wynentaler Blatt 11.11.2005
    • Beobachtungen in den letzten Jahren