Monatsbeiträge

Mai 2020, Rolf Bolliger

Der Eggstollen in Gontenschwil

Unser Monatsbeitrag vom September 2019 befasste sich mit der Mattenwässerung im Gontenschwiler Wili. Er zitierte einen sogenannten Kehrbrief aus dem Jahr 1817. Dieser bestimmte, wann welcher Bauer das Wasser aus dem Dorfbach auf seine Felder im Wili leiten durfte.
Wer in Gontenschwil ortskundig ist, weiss, dass das Wili östlich der Egg, der Seitenmoräne, liegt. Der Dorfbach hingegen fliesst westlich der Egg. So stellt sich dem aufmerksamen Leser unseres Beitrags die Frage, wie das Wasser aus dem Dorfbach ins Wili kam.
Des Rätsels Lösung: Es gibt einen unterirdischen Stollen durch die Egg. Diese Tatsache dürfte nur noch wenigen Personen bekannt sein. Ältere Oberdörfler haben den Stolleneingang als Kinder noch gesehen. Er soll damals mit einem eisernen Gitter versperrt gewesen sein. Inzwischen sind die Tunnelöffnungen längst zugemauert und von Erde überdeckt. Ihr genauer Standort ist in Vergessenheit geraten.

Entlang der Strasse im Hintergrund lief das Wasser in einem offenen Graben. Bei der Thujahecke, links im Bild, verschwand das Bächlein in den Tunnel unter der Egg.

Entlang der Strasse im Hintergrund lief das Wasser in einem offenen Graben. Bei der Thujahecke, links im Bild, verschwand das Bächlein in den Tunnel unter der Egg.

Ein erst kürzlich aufgetauchtes Dokument führt uns zurück in die Zeit, als dieser Stollen durch die Egg erbaut wurde. Es handelt sich dabei um einen Spruchbrief aus dem Jahr 1610. Beim Bau des Wassertunnels war es zu einer Klage von Wasserrechtsinhabern gekommen. Ein Gericht musste schliesslich über den Streitfall befinden. Vorsitzender des Gerichts war der Lenzburger Landvogt, Petermann von Wattenwyl, persönlich. Ihm zur Seite standen der Grafschaftsuntervogt Hans Furter sowie die Untervögte von Reinach und Kulm, Hans Hauri und Hans Huber. Auch dabei war Melchior Müller, ebenfalls von Kulm.
Vor die Schranken dieses Gerichts traten als Kläger die Brüder Ulrich, Hans und Jakob Peter sowie Martin Gautschi. Die Brüder Peter waren Besitzer der Lenzmühle im Unterdorf sowie der Mühle in Zetzwil. Martin Gautschi vertrat weitere Landbesitzer entlang des Dorfbaches. Sie pochten aus nachvollziehbaren Gründen auf die Wahrung ihrer Wasserrechte. Als Beklagter erschien Peter Frey, der Erbauer des Tunnels, seines Zeichens Untervogt von Gontenschwil und Mitbesitzer der Lochmühle.
Die Kläger brachten vor, Peter Frey habe bei seinem Haus unterhalb der Lochmühle das Wasser des Dorfbachs abgeleitet und eine neue Tole und Wasserleitung erbaut. Dadurch leite er das Wasser zu seinen Matten ins Wili, jenseits der Egg. Durch die Ableitung von Bachwasser würden die Besitzer sämtlicher Wässermatten unterhalb benachteiligt. Auch den Mühlenbesitzern entstehe grosser Schaden. In trockenen Zeiten beziehe Frey viel mehr Wasser als die anderen Wässerungsberechtigten. Bei Hochwasser könnte durch Freys Baumassnahmen nicht nur Schaden an den Gütern, sondern auch an der Landstrasse entstehen.

Das Wasser des Dorfbachs wurde also unterhalb der Lochmühle abgezweigt. Entlang der Strasse floss es in einem offenen Graben durchs Hinterdorf. Bei der heutigen Liegenschaft Wilistrasse 233 verschwand das Wasser unter die Egg und trat auf der anderen Seite im Wili wieder hervor.

Ostseite der Egg. Hier im Wili tratt das Wasser aus dem Eggtunnel wieder hervor.

Ostseite der Egg. Hier im Wili tratt das Wasser aus dem Eggtunnel wieder hervor.

Die damaligen Kläger forderten vom Gericht, es möge dem Tun von Untervogt Frey Einhalt gebieten. Dieser brachte zu seiner Rechtfertigung vor, mit seiner neuen Wässerung wolle er weder den Mühlen- noch den Mattlandbesitzern Schaden zufügen. Es sei ihm lediglich ein Anliegen, überflüssiges Wasser zu seinen Matten ins Wili zu leiten. Er hoffe, dass ihm solches erlaubt werde. Er wolle sich aber dem Richterspruch fügen.
Zur genauen Klärung der Sachlage traf sich der Landvogt mit seinen Amtsleuten zu einem Ortstermin in Gontenschwil. Nach der Besichtigung befand das Gremium, Untervogt Frey habe mit dem Stollen durch die Egg ein sehr nützliches Werk geschaffen. Zumindest bei Regenwetter sei genügend Wasser vorhanden, um zum Teil ins Wili abgeleitet zu werden. Dies könne auch von den Klägern nicht bestritten werden. So urteilte das Gericht am 16. April 1610, Freys Stollen solle bestehen bleiben. Am Eingang müsse aber ein Stein von 14 Zoll Breite und 6 Zoll Höhe gesetzt werden. Dies garantierte einen angemessenen Wasserdurchfluss. Untervogt Peter Frey wurde somit das Recht zuerkannt, das Wasser des Dorfbachs auf seine Felder und die seines Bruders Heinrich im Wili zu leiten. Die Wasserrechte dritter durften aber dadurch nicht tangiert werden. Insbesondere bei niedrigem Wasserstand sollte Frey die Ableitung unterlassen.

Blick auf die Matten von Wili und Wannental die mit dem hergeleiteten Wasser des Dorfbaches gedüngt wurden.

Blick auf die Matten von Wili und Wannental die mit dem hergeleiteten Wasser des Dorfbaches gedüngt wurden.

Das Urteil wurde richtungsweisend, denn die zunächst kritisierte Wässerung der Matten im Wili hatte sich bald etabliert. Die Bauern erlannten den Nutzen des Projekts und beteiligten sich daran. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden damit 42 Jucharten (ca. 14 ha) Mattland östlich der Egg bewässert. Künftig wurde gegen jedes Bauprojekt, das die Wässerungsanlage nur ansatzweise tangierte, Einspruch erhoben. So beispielsweise 1782, als im Hinterdorf eine Tabakstampfe errichtet werden sollte. Die Wässerungsberechtigten brachten durch ihre Bedenken das Vorhaben zu Fall.
Als Heinrich Frey 1826 ein neues Haus nah am Stollengraben errichtete (heute Wilistrasse 234), musste er eine schriftliche Verpflichtung eingehen. Es wurde ihm erlaubt, den Graben ein Stück weit zu überdecken. Hingegen musste er garantieren, dass das Wasser immer freien Durchlauf hatte. Ebenso erging es Melchior Bolliger, welcher 1864 im Hinterdorf eine Sägerei erbaute. Er musste versprechen, dass seine Anlage die Wasserrechte der Mattenbesitzer im Wili nicht tangiere. In allen diesen Fällen pochten die Landbesitzer auf den Spruchbrief aus dem Jahr 1610.

Die Veränderung der Landwirtschaft brachte neue, effizientere Düngemethoden. Die Wässerung des Landes kam allmählich «aus der Mode». Die Gräben, welche einst die Wiesen durchzogen hatten, zerfielen oder wurden zugedeckt. In welchem Zustand sich der Stollen durch die Egg heute befindet, ist ungewiss. Wie bereits berichtet, sind die Eingänge seit langem verschlossen. Daher können wir auch über die Beschaffenheit des Stollens nur spekulieren. Auf Grund seiner Länge von mehreren Dutzend Metern und den damaligen Arbeitsmethoden dürfen wir einen nahezu mannshohen Tunnel vermuten. Decke und Wände eines Stollens dieser Grössenordnung mussten zweifellos abgestützt oder ausgemauert werden. Gewissheit über Art und Zustand dieses historische Bauwerks aus dem frühen 17. Jahrhundert kann nur eine Grabung geben.

  • Dokument

    • Titel:
      Der Eggstollen in Gontenschwil
    • Autor:
      Rolf Bolliger, Gontenschwil
    • Veröffentlichung:
      1. Mai 2020
    • Download:
  • Quellen

    • Privatarchiv: Spruchbrief 1610, Kehrbrief 1817, Rechtsverwahrung 1837
    • Staatsarchiv AG: AA 0810
    • Bolliger, Widmer-Dean, Ortsgeschichte Gontenschwil, 2012 S. 291 ff.